Immer wieder lese oder höre ich davon, dass es im Change (Management) darauf ankommt, die Dringlichkeit der Veränderung herauszustellen und allen vor Augen zu führen. Ist dies erst einmal gelungen, dann ist der Change schon fast geschafft, nur noch kurz raus aus der Komfortzone, durch das Tal der Tränen und schon sind alle froh und glücklich in der neuen Welt angekommen. Begleitende von Veränderungsprozessen, verzeiht mir bitte an dieser Stelle meinen Sarkasmus.
Dem sogenannten „sense of urgency“ wurde meines Wissens erstmals in der Pinguin-Geschichte von Kotter1 richtig viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dort ging es darum, der Mehrheit und auch den „Meinungsmachern“ der Bewohner einer Pinguinkolonie zu vermitteln, dass der Eisberg, auf dem sich alle befinden, sich allmählich auflöst und damit der eigene Lebensraum gefährdet war. Nur wer dies als Wahrheit akzeptierte, war auch bereit, eine gefährliche Reise durchs Meer zu einem anderen, neuen Eisberg hin, zu unternehmen. So die Geschichte die ein Change-Bestseller wurde. In vielen auch mir bekannten Unternehmen wurde dieses als Buchgeschenk an die Führungsmannschaft verteilt – bis hin zu Stofftieren in Form eines Pinguins. Einfach wahnsinnig erfolgreich das Ganze. Also auch wahr und richtig (im Sinne von wirksam)?
Nun, ich kontere diesen „Sense of urgency“ gerne mit dem Sprichwort: „The only person who wants change is a wet baby!“2 Und ganz ehrlich, es gibt Changes, da kann ich diesen Unfug über Dringlichkeit nicht mehr hören. Und der Hinweis, dass das ein oder andere Modell ganz ohne diese Thematik auskommt (bspw. Lewins Modell beschäftigt sich überhaupt nicht mit dieser Frage)3 sei an dieser Stelle auch erlaubt.
Zugleich, und das möchte ich hier betonen, hilft uns für wirksames Change Management eine Pauschalisierung oder auch die Dogmatisierung eines Modells nicht wirklich weiter. Vielmehr geht es um die Betrachtung, was hinter der Dringlichkeit steht. Ist es ein nachvollziehbarer Grund, etwas Sinnhaftes, das mich als Mensch berührt und damit auch bewegt oder nur ein bisschen Marketing und Rhetorik?
Betrachten wir doch zuerst die Situation, dass die Dringlichkeit, für die am Wandel Beteiligten, nur bedingt bis gar keinen Sinn macht. Wieso wird diese „Dringlichkeit“ an so vielen Stellen betont? Eine Möglichkeit könnte sein, dass es nur mit Appellen gelingt, die Menschen in Organisationen noch zu einem Wandel zu bewegen. Denn oft sind die angestrebten Veränderungen nicht immer jene, die die Mitarbeiterschaft sich wünscht. Oft werden Veränderungsziele ausgerufen, die das Topmanagement motiviert, nicht aber die operativ arbeitenden Menschen. Diese haben durch viel durchlebte Veränderungen vielleicht das Muster des „Vorgehens“ verstanden Und mal ehrlich, warum sollen sich jetzt auf einmal z.B. „agil“ verhalten, wenn „die da oben“ doch nur so tun als ob?
Auch das Argument, dass sich ja stets alles im Wandel befindet (Panta Rhei – alles fließt) oder dass „Stillstand zum Rückschritt“ führt, nötigt manch einer operativ agierenden Person nur noch ein müdes Lächeln ab – oder den Griff zur Geldbörse, um in das bekannte „Phrasenschwein“ einzuzahlen. Betrachtet man diese Dinge mit etwas Abstand, überlegt man schon, was alles den Menschen in Organisationen widerfahren sein muss, dass sie so denken und handeln. Es ist also meiner Meinung nach nicht trivial, die Menschen zu einer Akzeptanz für eine Veränderung zu bewegen, welche keinen wirklich guten Grund hat. Gerne zitiere ich hier Gerald Hüther, der bei Entwicklung des Menschen gerne darauf hinweist, dass es dabei insbesondere um das „Einladen, Inspirieren und Ermutigen“ geht. Übersetzt heißt das, dass sogar bei verordneten Veränderungen überprüft werden sollte, wieviel Partizipation oder Teilhabe die Menschen für die Mitgestaltung des Change Vorhabens bekommen können bzw. sollen. Ich denke es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit der Einflussnahme gepaart mit der „Einladung“ sich einem Change frei zu nähern ganz andere Motivationen beim Menschen erschließt als bei einer verordneten, mit viel Showeffekten begleiteten Veränderung. Aus meiner Sicht ist es also im Vorfeld abzuwägen, ob bei einer Veränderung der Aspekt „Dringlichkeit“ genutzt wird. Gibt es dafür keine guten Begründungen, würde ich immer empfehlen auf ein solches Element zu verzichten. Denn die Menschen in Organisationen sind nicht dumm und gleichzeitig vergessen sie auch nicht so schnell. Und dies kann dann im schlimmsten Fall zu langanhaltenden, fast chronisch gelagerten, Widerstand führen.
Ich hatte das Glück vor einigen Jahren bei einer Netzwerkveranstaltung für Change Management teilzunehmen. Hier lernte ich einen langjährig erfahrenen Familienunternehmer kennen. Er gab mir mit, dass sein „Erfolgsrezept“ bei prozessualen Veränderungen oder Weiterentwicklungen darin lag, diese nur durch die betroffenen operativen Mitarbeitenden durchführen zu lassen. Denn diese würde sich so gut auskennen, dass sie überhaupt kein Interesse haben, irgendetwas „künstlich aufzublähen“ oder rein Theoretisches zu integrieren. Doch, so sagte der Unternehmer auch, der Weg für seine Erkenntnis, sei lang und teuer gewesen.
Eigentlich ist der Mensch vom Grunde her, ein „Erforscher bzw. Entdecker“ der allein schon durch die Fähigkeit ein Bedürfnis zu verspüren, für Veränderungen prädestiniert ist. Veränderungen unter „Zwang“ und ohne hinreichend sinnvolle Ausrichtung werden hingegen oft Opfer des Widerstands. Und umgekehrt kann es funktionieren, dass sich Menschen für eine Veränderung interessieren und engagieren.
Dies kann dann gelingen, wenn man generell den Veränderungsgrund versteht und nicht umhin kommt, ihn zu akzeptieren. Dies ist z.B. bei einem Technologiewandel so. Erinnern wir uns an die Zeit der Videokassetten. Es gab drei unterschiedliche Formate, bis sich dann VHS durchgesetzt hat. Da hat es nicht lange gedauert, bis sich alle mit diesem Format arrangiert haben, um weiterhin das Bedürfnis nach einem „Heimkino“ befriedigen zu können. An diesem Beispiel kann man leicht die Veränderungsfähigkeit der Menschen erkennen – ähnlich dem „Eisberg-Problem“ bei Kotter, denn es ist unausweichlich.
Gibt es denn nicht den sogenannten „goldenen Mittelweg“ fragen sich jetzt vielleicht einige. Meine Antwort darauf lautet „Jein“ – denn es kann durch die Nutzung von Bewahrungszielen gelingen, eine überzeugende Toleranz für die Veränderung zu bewirken. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht. Die Arbeit mit Bewahrungszielen kann manchmal helfen, dass Menschen sich trotz einer eher ablehnenden Haltung zur Veränderung auf dieselbige einlassen. Sind nämlich hinreichend viele, aus Sicht der Menschen wertvolle Dinge oder Ziele da, die sich nicht verändern, steigt die Bereitschaft sich der Veränderung zu stellen. Dies setzt aber voraus, dass die Veränderung adressatengerecht vermittelt wird und im gleichen Zuge die Bewahrungsziele in die Change Story mit aufgenommen werden. So entsteht zwar immer noch keine „Dringlichkeit“ für die eigentliche Veränderung aber genug Toleranz dafür, da sie ja nicht ganz so „bedrohlich“ ist. Zugleich sei darauf hingewiesen, dass Themen wie „Arbeitsplatz-Sicherheit“ (ein oft genutztes Bewahrungsziel, vermeintlich) eher als Drohung und nicht als etwas Kostbares bzw. Bewahrenswertes verstanden wird. Ganz anders wirkt es im Gegensatz dazu, wenn mir aufgezeigt wird, dass meine fachliche Expertise nicht in Gefahr, sondern im besten Fall nach dem Wandel mehr denn je benötigt wird. Es ist denke ich leicht nachvollziehbar, dass ich darüber viel eher gewillt bin, eine Veränderung zu tolerieren und im besten Fall auch voll zu unterstützen. Das erfordert natürlich von den Verantwortlichen für das Change Management, den Blick über den Tellerrand hinweg und eine umfangreichere Beschäftigung mit den Menschen.
Generell sollten aber die Bewahrungsziele vor der Bekanntgabe gut durchdacht und hinterfragt werden. Nichts ist frustrierender als wenn ein postuliertes Thema ein halbes Jahr später nicht mehr existiert. Auch aus diesem Verständnis heraus habe ich im Change-Cocktail4 das Thema „adressatengerechte Vermittlung des Changes an sich“ als eine Zutat aufgenommen. Glaubwürdigkeit ist meines Erachtens durch nichts zu ersetzen.
Wenn ich mir so manche Veränderung aus der Vergangenheit vorstelle, bei welcher die Dringlichkeit stark betont wurde – irgendwie ist da der damalige Grund mittlerweile im Archiv gelandet – Mensch, ihr Topmanager und Unternehmensberater, es geht doch auch anders! Wie hätte mancher Change verlaufen können? Und wie viel Bereitschaft für neue Veränderungen hätte es ohne die dauernde Betonung der Dringlichkeit geben können. Ich weiß es nicht, nur meine Phantasie zeichnet eindeutig günstigere Bilder als die, die ich in Erinnerung habe.
Doch dies sind nur meine GedankenÜber… Bei Gefallen würde ich mich über einen „Like“ freuen, gerne auch über einen Gedankenaustausch zu euren Erfahrungen
1John P. Kotter: Leading Change: Wie Sie Ihr Unternehmen in acht Schritten erfolgreich verändern. 1. Auflage. Vahlen, München 2011 und Das Pinguin-Prinzip. Wie Veränderung zum Erfolg führt. Von John Kotter, Holger Rathgeber · 2011
2Dieses Zitat wird Mark Twain zugeschrieben
3Lewin hat für Veränderungsprozesse in Gruppen und Organisationen im Jahr 1947 in seinem Artikel Frontiers in group dynamics ein 3-Phasen-Modell formuliert.